January 22, 2024
Von der Störung des Darmmikrobioms bis zum Verbleib im Gehirn gibt es viele Theorien, wie das Coronavirus dauerhafte Symptome verursachen kann.
Die meisten Menschen, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben, erholen sich vollständig und können ihr Leben wieder aufnehmen. Jüngste Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass bei mindestens 10 Prozent der Betroffenen langfristige Symptome auftreten, auch wenn der Körper das Virus offenbar überwunden hat. Dieser Zustand, der als Long Covid bekannt ist, hat sich als ein beängstigendes Merkmal der Pandemie herausgestellt - eine Erinnerung daran, dass selbst wenn die Zahl der Krankenhausaufenthalte und Todesfälle zurückgeht, Millionen von Menschen weiterhin unter den Folgen der Infektion leiden werden.
Dabei zeigt sich, dass Covid-19 eine von vielen Infektionen, von Ebola bis zu Streptokokken, zu sein scheint, die bei einer bestimmten Untergruppe von Patienten hartnäckige Symptome hervorrufen können. Der Unterschied besteht nun darin, dass mit 137 Millionen Covid-19-Fällen weltweit, Tendenz steigend, diese Untergruppe stärker in Erscheinung treten: Ihr Leiden ist in einer noch nie dagewesenen Zahl aufgetreten. Es ist aber auch möglich, dass das Coronavirus noch häufiger als andere Infektionen langfristige Symptome verursacht.
Die erste Erklärung ist meist die einfachste: Möglicherweise hat das Virus den Körper zwar verlassen, aber Verletzungen hinterlassen - zum Beispiel Narben in der Lunge oder Schäden am Herzen - und diese Verletzungen können zu Symptomen führen.
Laut einem aktuellen Preprint, an der 201 Patienten teilnahmen, wiesen 70 Prozent vier Monate nach Auftreten der ersten Covid-19-Symptome Beeinträchtigungen in einem oder mehreren Organen auf. In einer anderen weiteren Studie verfolgten Radiologen der University of Southern California die Erholung der Lunge von Krankenhauspatienten anhand von CT-Scans. Dabei stellten sie fest, dass ein Drittel der Patienten mehr als einen Monat später Narben aufwies, die durch das Absterben von Gewebe verursacht wurden. Bei anderen Patienten kann es zu Hirnschäden kommen, die neurologische Symptome verursachen.
Es gibt auch immer mehr Hinweise auf weit verbreitete Herzschäden, selbst bei Patienten, die nicht ins Krankenhaus eingeliefert wurden. In einer kardiologischen Studie untersuchten Forscher 100 Patienten in Deutschland, die sich innerhalb der letzten zwei bis drei Monate von Covid-19 erholt hatten, mit MRTs des Herzens. Erstaunliche 78 Prozent wiesen noch immer Herzanomalien auf.
Für Coronavirus-Patienten, die auf die Intensivstation eingeliefert werden mussten, gibt es eine ähnliche Erklärung: Schon lange vor der Pandemie wurde in der Intensivmedizin ein Begriff für die anhaltenden Symptome geprägt, die häufig nach einem Aufenthalt auf einer Intensivstation auftreten, egal ob es sich um Krebs oder Tuberkulose handelt. Zu diesen Symptomen gehören Muskelschwäche, Brain Fog, Schlafstörungen und Depressionen. Zusammengefasst sind das die Folgen eines Körpers, der tagelang in einem Krankenhausbett herumliegt, sowie Nebenwirkungen von Behandlungen, die die Patienten erhalten haben, einschließlich der Intubation.
Eine weitere Erklärung ist, die Infektion ist noch nicht ganz vorbei. Das Virus oder seine Bestandteile könnten noch irgendwo im Körper schlummern, lange nachdem eine Person negativ getestet wurde.
Von anderen langwierigen Viruserkrankungen wissen wir, dass die Krankheitserreger in manchen Fällen nicht vollständig aus dem Körper verschwinden. Das Virus zirkuliert dabei nicht mehr im Blut, sondern gelangt in geringem Maße in das Gewebe. Damit verbleibt ein Reservoir des Virus in beispielsweise Darm-, Muskel- oder Hirngewebe. Das führt zu pathologischen Folgen wie Entzündungen.
Diese Virusreservoirs wurden nach Infektionen mit vielen anderen Krankheitserregern dokumentiert. Nach der Ebola-Epidemie 2014-2016 zeigten Studien, dass das Ebola-Virus im Auge und im Sperma verweilen kann. Ähnliche Erkenntnisse gab es während der Zika-Epidemie 2015-2016, als die Gesundheitsbehörden vor der Möglichkeit einer sexuellen Übertragung des Zika-Virus warnten.
Zudem zeigen aktuelle Untersuchungen eine weitere Eigenschaft von Covid-19. Auch wenn das intakte Virus den Körper verlassen hat, können RNA und Proteine des Virus zurückbleiben und das Immunsystem weiter stimulieren, wie bei einer chronischen Virusinfektion. Jüngste Studien, die in Nature und The Lancet veröffentlicht wurden, dokumentierten RNA und Proteine des Coronavirus in einer Vielzahl von Körpersystemen, darunter im Magen-Darm-Trakt und im Gehirn.
Bei Autopsien von Menschen mit chronischem Müdigkeitssyndrom fanden Forscher auch Enterovirus-RNA und -Proteine im Gehirn der Patienten, in einem Fall sogar im Hirnstammbereich. Das Stammhirn steuert den Schlafzyklus, die autonome Funktion (das weitgehend unbewusste System, das Körperfunktionen wie Verdauung, Blutdruck und Herzfrequenz steuert) und die grippeähnlichen Symptome, die wir als Reaktion auf Entzündungen und Verletzungen entwickeln.
Andere Krankheitserreger, die bereits vor einer Coronavirus-Infektion im Körper vorhanden waren, können die Symptome ebenfalls verschlimmern. Viren aus der Familie der Herpesviren beispielsweise - wie Epstein-Barr (Erreger der Mononukleose) oder Varizella Zoster (Erreger von Windpocken und Gürtelrose) - bleiben im Körper für immer inaktiv. Unter normalen Bedingungen kann das Immunsystem sie in Schach halten.
Doch dann taucht Covid-19 auf, und plötzlich bekommen diese anderen Viren die Chance, wieder Fuß zu fassen. Da das Immunsystem mit der Bekämpfung von Covid-19 beschäftigt ist, können die anderen Viren wieder aktiv werden. Die wissenschaftliche Theorie besagt, dass sie - und nicht das Coronavirus - die Symptome verursachen.
Eine weitere wichtige Hypothese: Long COVID-Patienten haben eine Autoimmunerkrankung entwickelt. Das Virus unterbricht die normale Immunfunktion und verursacht Unregelmäßigkeiten, so dass sich Moleküle, die normalerweise gegen fremde Eindringlinge - wie Viren - gerichtet sind, gegen den Körper wenden.
Die so genannten Autoantikörper greifen entweder Elemente der körpereigenen Immunabwehr oder bestimmte Proteine in Organen wie dem Herzen an. Man geht davon aus, dass sich dieser Angriff von einem Zytokinsturm unterscheidet, einer akuten Störung des Immunsystems, die zu Beginn der Pandemie als potenzielle Bedrohung erschien. Dieser wird durch eine Eigenschaft verursacht, die man molekulares Mimikry nennt. Das Virus erzeugt Proteine, die wie menschliche Proteine oder Gewebe aussehen, und trickst so das Immunsystem aus. Wenn diese viralen Proteine eine ähnliche Form wie ein menschliches Protein haben, bekämpft das Immunsystem auch menschliches Gewebe.
Es ist auch möglich, dass das Coronavirus wichtige Mikroorganismen im Darmmikrobiom - den Billionen von Bakterien, Viren und Pilzen, die im und auf dem Körper leben - dezimiert.
In einer Studie verfolgten die Forscher Blut- und Stuhlproben von 100 Patienten, die mit einer SARS-CoV-2-Infektion ins Krankenhaus eingeliefert wurden, und untersuchten einige bis zu 30 Tage, nachdem sie das Virus überwunden hatten. Sie fanden heraus, dass die Covid-19-Infektion mit einem "dysbiotischen Darmmikrobiom" zusammenhängt, dass gestört bleibt, selbst nachdem die akute Viruserkrankung vorbei ist. Dies könnte die weitere Belastung und die Symptome bei Long COVID verursachen.
Wir können die genauen Gründe für die Entstehung von Long COVID noch nicht benennen. Die oben beschriebenen Theorien sind Gegenstand aktueller Forschung, können sich daher bestätigen oder widerlegt werden. Alle haben einen möglichen logischen Erklärungswert, weswegen sich die Wissenschaft diesen Fragen widmet. Da ersichtlich ist, dass sich Long COVID auf so viele verschiedene Arten präsentiert, wird am "Ende" der Forschungsarbeiten vermutlich kein einzelner Grund stehen, sondern ein multimodaler Erklärungsansatz, also ein Bündel an Gründen, die für Long COVID verantwortlich sind.